Steve Sem-Sandberg Die Erwählten
Die Erwählten
Roman, aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek (Original: De utvalda) 1. Aufl. 2015, 525 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag ISBN 978-3-608-93987-3

»›Die Erwählten‹ ist ein literarisches Meisterwerk
ebenso mitreißend und einfühlsam erzählt wie
›Die Elenden von Lódz‹.«
Håkan Nesser
Adrian Ziegler, der aus einem sozial und erbbiologisch »minderwertigen« Eltern-haus stammt, wird im Alter von elf Jahren nach Steinhof gebracht. Dort gehen für die Kinder Phantasie und Wirklichkeit ineinander über. Der Anblick des Berges vor dem Fenster weckt bei ihnen die Hoffnung auf einen Schutzengel, der zur Rettung naht. Adrians Aufsässigkeit, einschließlich einer kurzzeitigen Flucht, lassen ihn sämtliche Stationen dieser Hölle des Nazi-Systems durchlaufen. Er kommt als Anschauungsobjekt in den Vorlesungssaal und schließlich auf die Krankenstation. Dort arbeitet Anna Katschenka, die den Umgang mit Kindern liebt. Doch Loyalität und Treue lassen sie fraglich erscheinende ärztliche Anweisungen strikt befolgen. Sie macht sich dadurch mitschuldig am Leiden und Tod zahlreicher Kinder. Steve Sem-Sandberg gelingt eine eindrucksvolle Schilderung des Lebens über mehr als sechs Jahrzehnte, wie es sich auch am finstersten Ort gestaltet.
Verena Lüthje von "Freunde skandinavischer Literatur" hat dieses Buch gelesen
Steve Sem-Sandberg, davon bin ich überzeugt, wird einer der kommenden Nobelpreisträger; so wie ich es seinerzeit bereits im Jahre 2004 für Tomas Tranströmer in einer meiner Rezensionen vorhergesagt hatte, der den begehrten Preis 2011 tatsächlich erhielt. Nun sind meine Vorhersagen zwar nicht bindend, aber immerhin zutreffend, denn es gibt wenige Ausnahmetalente, die in der Lage sind, dem Sinn des Nobelpreises entsprechend, die Literatur zu befördern und gleichzeitig inhaltlich ein Werk vorzulegen, das weltumspannende Bedeutung hat. So hat Tranströmer in seinem schmalen, aber unvergleichlich hochpoetischen Werk eine Sprache gefunden, wie es kaum einem anderen Lyriker so zartfühlend, so anrührend gelingt. Sem-Sandberg schafft es mit diesem neuen Buch wieder, wie mit seinem ersten Erfolg, Die Elenden von Lódz, ein grausames Thema mit einer poetischen, zartfühlenden Sprache zu begegnen.
Ich könnte fast sagen, der Autor Steve Sem-Sandberg ist mit all eines Menschen möglicher Empathie ausgestatteter - im positiven Sinne - Antagonist (zugleich Ich-Erzähler) zu den männlichen, aber auch vielen weiblichen Widerlingen des Nazi-Regimes, die im sogenannten Kinderheim "Spiegelgrund" (mit Vorlesungssaal und Krankenstation) auf grausamste Art und Weise mit den Leben der dort untergebrachten Kinder hantierten, vielmehr mit ihren Körpern, die sie zu angeblichen Forschungszwecken malträtierten, wie sich das ein normal denkender Mensch nicht vorstellen kann. Ohne sich im Geringsten auch nur um ein Fünkchen Wohl der Kinder zu kümmern, befolgten die Krankenschwestern treu und strikt die Anweisungen der sogenannten Ärzte Jekelius, Gross und später Illing, die in geisteskranker Machtvollkommenheit sich das Recht herausnahmen, über Leben und Tod der Kinder zu entscheiden. Sem-Sandberg veranschaulicht sehr behutsam, aber an einigen Stellen auch unumgänglich brutal, wie die Kinder unter Höllenqualen sich in ihren Bettchen scheuerten, rekelten und schrien bis zur völligen Erschöpfung. Daraus folgerte dann jeweils die Diagnose Schwachsinn oder nicht mehr arbeitsfähig oder ähnliches. Das Grausamste, was diese Teufel in Menschengestalt noch taten, war, dass sie den verzweifelten Eltern einen Brief schrieben, wie es um den Gesundheitszustand des Kindes aussieht und dass eine Genesung nicht zu erwarten ist. Kamen die Eltern dann zu Besuch, wurden sie abgewiesen und unter verzweifelten Rufen nach ihrem Kind vom Grundstück entfernt. Seltsamerweise starben diese Kinder dann sehr schnell und wieder ereilte den Eltern ein Brief, wie ernst es um den Sohn oder die Tochter steht. Aber diese Briefe wurden erst verspätet abgeschickt, so dass die Eltern nur noch den Tod ihres Kindes empfangen durften. Allein ein solcher Zynismus ist durch Nichts mehr zu überbieten.
Nur einer hat überlebt. Er war als Zeitzeuge für Sem-Sandberg die wichtigste Person, die noch aus eigener Erfahrung berichten konnte. Gerade weil der Autor die Gabe besitzt, hochpoetisch und empfindsam zu schreiben, sanft, mildernd, lassen selbst die grausamsten Schilderungen, vor denen er nicht halt machte oder vielmehr gerade nicht halt machte, noch eben das Lesen erträglich erscheinen, aber damit erfahren wir und vor allem unsere nachfolgenden Generationen auf schonungslose Art, was ein Meisterwerk an Brutalität bieten kann.
Diesen Roman sollten wir als Epitaph begreifen. Selten kann das ein Werk von sich behaupten. Hierdurch erhalten all die Kinder, die grausam zu Tode gequält wurden ein würdiges Denkmal, und werden dem Vergessen entrissen. Sie stehen stellvertretend für den Aufschrei nach einer humanen Gesellschaft, nach Liebe und Fürsorge für alle Kinder dieser Welt.
Der Autor Steve Sem-Sandberg
Steve Sem-Sandberg, geboren 1958, ist einer der renommiertesten schwedischen Autoren. Für den Roman »Die Elenden von Lódz« hat er den schwedischen August-Preis verliehen bekommen.

Pressestimmen
»Sem-Sandbergs Roman ist von eindrucksvoller Weite und Tiefe, zahlreiche seiner Charaktere lassen einen auch lange Zeit nach der Lektüre noch nicht los.« Sydsvenska Dagbladet »Ein Meisterstück, das jeder lesen sollte« Helsingborgs Dagblad »Steve Sem-Sandbergs Roman ist keine Aussöhnung mit der Vergangenheit, sondern er hilft uns, das Unverzeihliche besser verstehen zu können.« Babel, SVT »Es gibt Bücher, die eine Welt erschaffen, in der man für immer bleiben möchte, und andere, die eine so schmerzvolle Welt zeigen, dass man ihr nur entkommen möchte. Dieser Roman ist beiden Kategorien zuzuordnen, wie dies normalerweise bei großer Literatur der Fall ist.«Expressen
Weitere Bücher von Steve Sem-Sandberg
Die Elenden von Łódź
Pragmatiker oder Monster? In seinem Roman über das jüdische Getto in Łódź stellt Steve Sem- Sandberg die Frage nach den Mechanismen der Unterdrückung, dem Moment, in dem die Anpassung unerträglich wird. Auch für einen Verräter wie den starken Mann des Gettos, den Judenältesten Mordechai Chaim Rumkowski.
ISBN 978-3-608-93897-5
Rezension von Verena Lüthje
Der in Oslo geborene Autor dieses herausragenden literarischen Werkes, Steve Sem-Sandberg, ist einer der renommiertesten schwedischen Schriftsteller. Das hier rezensierte und von Gisela Kosubek aus dem Schwedischen übersetzte Buch ist ein Roman, dem der Erzähler die Chronik des wenige Monate nach dem Einmarsch in Polen von Deutschen errichteten jüdischen Ghettos in der Industriestadt Łódź als Grundgerüst zugrunde gelegt hat. Immerhin umfasst die ungekürzte Version der Chronik mehr als 3000 Seiten und wurde im November 2007 im Wallstein Verlag in einer fünfbändigen Ausgabe publiziert. Es war zunächst ein offizielles Register, in dem beispielsweise Lebensmittelzuteilungen und Deportationen verzeichnet wurden, das sich aber im Laufe der Zeit aus Angst vor Zensureingriffen immer mehr zu einem literarischen Verzeichnis ausweitete. Zudem war es den Chronisten damals ein Anliegen, den Ghettoalltag so genau wie nur möglich zu beschreiben. Für die Nachwelt. Daraus resultiert, dass sie sich ihrer Lage im Klaren waren und alles Schreiben nicht für sie selbst geschah. Aus diesen Aufzeichnungen konstruierte Sem-Sandberg eine eigene, aufhellende Chronik, die das Unbegreifliche bildhaft macht, derart, dass der Erzähler seine Gefühle ausklammert und diese allein dem Leser überlässt. Im Mittelpunkt steht der Judenälteste Mordechai Chaim Rumkowski, der, von den Nationalsozialisten eingesetzt, über das Ghetto herrscht. Einerseits ist ihm die Rettung aller Juden ein Anliegen, andererseits durchflutet ihn die Herrlichkeit der Macht. Abgründe tun sich auf, die eine diffuse Persönlichkeitsstruktur freilegen und die in perversen Handlungen zu seinem Sohn, den er gewissermaßen adoptiert hat, gipfeln, während auf der anderen Seite die Menschen im Ghetto um ihr nacktes Überleben kämpfen. Die Schlinge, in die er sich durch seine Machtbesessenheit selbst hineinmanövriert, zieht sich immer enger zu. „Bestimmst du, wer sterben soll?“ fragt ihn eines Tages der Sohn, und das ist die zentrale Frage des Romans. Was macht der Judenälteste richtig, was falsch?
Erst die vielen Einzelschicksale, die realen und fiktiven, die Sem-Sandberg eindrucksvoll ineinander webt und vor allem detailbesessen aus der kaum fassbaren Masse von ungefähr zweihunderttausend Bewohnern des Ghettos destilliert, gewähren Einblicke in das versuchte Alltagsleben, in eine Bewältigung dessen, was dem Bewusstsein des kommenden Todes nur Aufschub leistet. Sem-Sandberg hat, wie er selbst in einem Interview sagte, „nicht mehr und nicht weniger als eine Darstellung des Ghettos in all seinen Facetten liefern wollen“ und dabei sind ihm nicht nur die bedrückenden, traurigen Einzelschicksale aus der Feder geflossen, sondern auch bemerkenswerte Passagen, die einen unvorstellbaren Mut beweisen, Liebe und Solidarität bezeugen, die zweifelsohne in einer Zwangsgemeinschaft unter ärgsten Bedingungen der Not entstehen, ohne die es für den Einzelnen kaum auszuhalten wäre. Solidarisch für einander eintreten, sich gegenseitig helfen, eine andere Stufe der Selbstlosigkeit entwickeln, das geschieht oft nur in ernsthaft existenziell bedrohten Zeiten; geht es den Menschen wieder gut, schieben sich erneut egoistische Mechanismen zur Lebensbewältigung in den Vordergrund. Die Natur muss sich bei diesen Verhaltensmustern etwas gedacht haben.
Theres
Ulrike Meinhof ist »Theres«: eine heilige Mörderin, eine mystische Terroristin? Steve Sem-Sandberg begibt sich in seinem Roman auf die Suche nach der Geschichte einer Frau, die ganz Deutschland in Atem gehalten hat. Er entdeckt dabei einen vielschichtigen Menschen, der zwischen Mut, Hass und Verzweiflung schwebt.
ISBN 978-3-608-93959-0
22,95EUR