Linda Boström Knausgård - Willkommen in Amerika
Aus dem Schwedischen von Verena Reichel 144 Seiten. Gebunden. Lesebändchen € 18,00 €[A] 18,60 ISBN 978-3-89561-123-0

Der Verlag schreibt:
Die elfjährige Ellen lebt in einer unbeschwerten Familie. So betont es die Mutter, eine erfolgreiche, lebenslustige Schauspielerin. Wenn sie zu Hause ihren Unterricht hält, müssen die Türen geschlossen sein, und das Theater ist ihre eigene Welt. Auch der große Bruder verbarrikadiert sich in seinem Zimmer, hört laute Musik und hat eine erste Freundin. Die Zeit ausgelassener Eishockeyspiele in der Diele der großen Wohnung ist vorbei, erst recht, als der Vater stirbt. Nach der Trennung der Eltern war er aggressiv geworden, Ellen hat seinen Tod so sehr herbei gewünscht, dass sie nun aus Angst über die Macht ihrer Gedanken verstummt. Mit ihrem Schweigen schützt sie die dunkle Wahrheit ihres Ichs und fordert die Mutter zu einem Kräftemessen heraus.
Verena Lüthje von "Freunde skandinavischer Literatur" hat das Buch vorab gelesen und die Lesung in Kiel, am 21. September 2017, im Literaturhaus Schleswig-Holstein besucht:
Die Ankündigung der Lesung der schwedischen Autorin überraschte mich, hatte ich bisher von ihr nur aus dem weltweit gefeierten, monumentalen Werk ihres inzwischen geschiedenen Mannes Karl-Ove Knausgård "Min Kamp", so der norwegische Titel, gelesen, in dem sie als seine Ehefrau und Mutter der gemeinsamen Kinder eine zentrale Rolle spielte, und nun präsentiert sie sich leibhaftig in Kiel mit einem Buch, einem Kammerspiel, wie es der Verlag einordnet und auf den Zusatz Roman auf der Vorderseite des sehr gelungenen Covers, das farblich - rein zufällig? - an den Band "Lieben" ihres Ex-Mannes anzuknüpfen scheint, verzichtet - denn es ist wahrhaftig ein "poetisches Kammerspiel", aber dann setzt der Verlag doch im Klappentext weiter hinzu: "(...) ein Roman über Kunst und Macht aus der magischen Perspektive eines Kindes, der einen unwiderstehlichen Sog entwickelt."
Nicht viele Autoren widmen sich dem Kammerspiel, der verdichteten Version eines Romans, jedoch deutlich geweiteter als ein Gedicht. Man könnte diese Form der Literatur irgendwo dazwischen ansiedeln. Und auch wieder nicht, denn weder das Gedicht, noch der Roman verfügen über den gleichen Ansatz, und auch das Kammerspiel ist bei genauerer Betrachtung ein ganz eigenes Genre. Linda Boström Knausgård beweist mit diesem Buch ihr Können in dieser Nische, denn ihre Sprache in kurzen, knappen Sätzen, die nicht immer vollständig sind, die einzeln und vor allem langsam gelesen werden müssen, um deren Wirkung zu entfalten, verdichten das ganz spezielle Erwachsenwerden der elfjährigen Ellen, die sich allein durch ihr Schweigen nach außen ausdrückt und der Familie und ihrer Umwelt ihr Missfallen über diesen Werdegang zu erklären versucht. Die Perspektiven wechseln vielfach, oft sogar in einem Satz - mal im Präsens sind wir genau dabei, wenn Ellen ihre momentanen Gedanken schildert, dabei Gott anbetet, ihr zu helfen, den Vater umzubringen, mal im Präteritum, wenn die erwachsene Ellen auf ihre Kindheit zurückblickt, jedoch Momente in ihrem Zimmer, in der Wohnung, mit dem Bruder oder bei ihren Besuchen im Theater Revue passieren lässt. Überhaupt scheint es so, dass dieses Kammerspiel auf einer Theaterbühne verortet ist, eingerichtet wie die große Wohnung, in der Ellen mit ihrer Mutter und ihrem Bruder lebt, nachdem der Vater verstorben ist. Die Bühnenbilder wechseln hier und da - Wohnung, Schule, in der Natur beim Fischen, im Theater, in dem die Mutter engagiert ist und spielt, doch die Wohnung stellt die Hauptpräsenz dar. Mir kommt es so vor, als spiele das ganze Buch Theater, die Mutter hauptberuflich, der Bruder, um sich abzugrenzen und Ellen, um ihre Grenzen auszutesten und ihre für eine Elfjährige ungewöhnlich schweren, reifen und ganz und gar nicht kindlichen Gedankenmuster ein wenig auch altklug daherkommend auszuleben. Das theatralisch Angst behaftete Verhältnis zum Vater dominiert, während sie es fortlaufend reflektiert und für sich eine Lösung sucht. Ob die Autorin, selbst Tochter einer Schauspielerin, hierfür reichlich autobiografische Blenden verwendet hat?
Ich bin gespannt, was ich gleich erfahren werde, denn nun sitzt die 1972 geborene, immer noch jugendlich aussehende Schwedin keine zwei Meter von mir entfernt, doch von Anfang an:
Linda Boström Knausgård betritt den kleinen, vollbesetzten Saal des Literaturhauses. Schüchtern. Schwarze Haare, schwarze Boots, eine schwarz-weiß-gestreifte Bluse zur schwarzen Röhrenjeans – schmale Gestalt, blass, zerbrechlich. Der erste auf Deutsch übersetzte Roman der hochgelobten, schwedischen Autorin, deren berühmter Name - zumindest heute Abend kein Thema ist - wird von Dr. Wolfgang Sandfuchs kurz vorgestellt. Eine verdichtete Erzählung um das elfjährige Mädchen Ellen, die sich ihrer Außenwelt verweigert, in dem sie nicht spricht. Vater und Mutter sind auf unterschiedliche Art und Weise Grund dafür, dass Ellen sich nur in ihrer eigenen Welt bewegt. Die helle Haut der Autorin, ihre Haare im Nacken zu einem Zopf gebunden, ihr Blick über die Köpfe der Gäste hinweg - zurück in ihre Gedanken. Eine helle Familie seien sie – die Mutter, eine begehrenswerte Schauspielerin am Theater, zuhause erteilt sie Schauspielunterricht, verkörpert das Lichte - der Vater vom Lande, kommt mit der exaltierten familiären Situation nicht klar, trinkt, symbolisiert den Gegenpol, das Dunkle, verstirbt. An seinem Tod fühlt Ellen sich schuldig. Sie schweigt, die Autorin.
Die Fragen des Moderators, Dr. Sandfuchs, beantwortet sie mit dolmetschender Hilfe von Axel Daude* - bedächtig, dennoch kurz, fast einsilbig. Mit der Lyrik hat sie angefangen, 1998, sagt der Leiter des Literaturhauses, leider sind ihre Texte bislang nicht übersetzt. Sinngemäß lautet der Titel ihres ersten Buches „Mach mich bequem für die Wunde“, darin Licht, Dunkelheit, Schlaf und Wachsein. Sie sitzt kerzengerade auf dem Stuhl. Ohne Regung. Die daraufhin entstandene Novellensammlung „Grand mal“, auch noch nicht übersetzt, aber der Verlag arbeitet daran, hat das Gebet im Fokus - das Gebet für ihre Familie. Auch geht es um die grundsätzliche Situation, die eine Veränderung mit sich bringt, und sie erzählt in knappen Sätzen, dass ein Junge sich während eines epileptischen Anfalls, den sie erlitt, verletzte - und dass sie das nie vergessen hat. Ihr erster Roman „Helioskatastrofen“, der bereits ins Englische und Niederländische übersetzt worden ist, handelt von einer Flugzeugkatastrophe, in deren Folge die Götter aus der griechischen Mythologie eine Rolle spielen und ein Mädchen aus dem Kopf ihres Vaters geboren wird, der die Geburt nicht überlebt. Dass das Mädchen griechisch spricht, wie die Autorin abschließend ausführt, entlockt dem Publikum ein hörbares Schmunzeln. Ob sie mit ihrem bisherigen Werk nun einen Bogen zum vorliegenden Roman geschlagen hat? Dr. Sandfuchs wählt auch seine Fragen mit Bedacht aus. Nein.
Die Autorin liest nun auf Schwedisch aus Ihrem Buch „Willkommen in Amerika“. Ihre hochgeschlossene Bluse, das Mikro noch zu weit entfernt - sie beugt sich vor. Justiert es später. Der Klang ihrer Stimme, fester als ihr Blick, dunkler als ihre Haut, musikalisch, typisch schwedisch, doch keine Intonation, die auf die Stimmung des Textes schließen ließe. Jedenfalls nicht für diejenigen, die kein Schwedisch verstehen. Am Ende klappt sie das Buch ganz langsam zu, legt es wie in Zeitlupe ordentlich vor sich hin. Die Hände auch. Die langgliedrigen Finger übereinander. Lehnt sich vorsichtig zurück. Die Muskeln in ihrem Gesicht entspannen sich sichtbar. Ihr Blick, ernst, dabei abwesend. Träumt sie? Keine Bewegung mehr. Schweigen. Jule Nero, ihre deutsche Stimme. Frisch, schwungvoll akzentuiert in der Betonung. Leidenschaftlich. Ein ganz anderer Klang. Wir atmen die Blaubeeren in der Sauermilch. Keine Regung, kein Blickkontakt, nicht zum Publikum, zu Niemandem. Beklemmend, was Ellen über ihre Schuld zu berichten weiß. Die deutsche Stimme wird langsamer, schließt das Buch. Dr. Sandfuchs fragt behutsam, die Blei schwere Stille im Raum kaum durchbrechen mögend, was er bedeutet, der erste Satz: „Ich spreche schon seit Langem nicht mehr“ – und besonders „seit Langem“. Linda Boström Knausgård ist plötzlich wieder da. Steht nicht drin, sagt sie. Nachgefragt - dachte sie an ihre Kindheit, ist der Roman nicht eigentlich autobiografisch? Es scheint ein paradoxer Satz zu sein. Ellen hat ihr Schweigen mit dem Buch gebrochen, wenn sie erzählt, sagt die Autorin, sie führt einen inneren Monolog, der Text ist in ihr drin, das Buch spricht, Ellen nicht. Sie spricht mit beiden Händen, ihre Finger spreizend. Ellen bewegt sich außerhalb der Wohnung, fährt die Autorin fort, und es ist ein Bruch, als der Rektor zu ihnen nach Hause kommt - ein Schulgespräch. Helle Frau – was bedeutet das? fragt Dr. Sandfuchs. Die Mutter steht für diesen Ausdruck, ist ein heller, positiver Typ, Charakter, die aber auch mal schlechte Beschlüsse fasst. Kann man auch anders lesen, sagt Dr. Sandfuchs, auch wenn Ellen alles dunkel sieht, ist das eine Liebesbekundung an die Mutter. Keine Reaktion. Kein Dementi. Der Bruder hat ihm besser gefallen, sagt er, Ellen hat Angst vor ihm. Die Figuren sind beschädigt, alle schotten sich ab, der Vater tot, die Mutter spielt Theater. Sie schließen sich alle ein, aber akzeptieren sich in ihren Rollen, sagt Linda Boström Knausgård. Ellen hat direkten Zugang zu Gott, ist etwas größenwahnsinnig. Wie im Buch „Grand mal“ verschwindet die Dunkelheit von der Familie, knüpft Dr. Sandfuchs an das Erstlingswerk der Autorin an, die Tochter wählt zwischen Leben und Tod und hier ist Ellen nun und spricht ihre Gebete. Dr. Sandfuchs macht eine rhetorische Pause. Hat sich eigentlich schon einmal ein Psychologe an das Buch gemacht? fragt er zur Überraschung des Publikums, das sich umgehend in allerhöchste Alarmbereitschaft begibt, während Axel Daude noch übersetzt. Ich weiß es nicht. Stille. Eine gefühlt lange Pause entsteht. Im Theaterstück ist die Mutter eine gefallene Freiheitsgöttin – wird sie vom Sockel gestoßen? lautet seine nächste Frage. Ellen ist im Theater und guckt ihre Mutter an, sie erlebt die Faszination der Mutter in deren Rolle, erlebt das stark. Ellen erlebt ihre Mutter zuhause hell, im Theater dunkel. Weiter aus dem Buch auf Schwedisch. Auf Deutsch. Das Zwiegespräch Ellens mit Gott, dem Bruder, der Mutter. Der nachdenkliche, versunkene Blick der Autorin.
Der erste Zuhörer sagt, er empfinde aus dem Gesagten eine Welt voll Traurigkeit, eine trostlose Welt, keinen Moment der Freude oder Fröhlichkeit, es herrschen Angst und Furcht. Die Autorin sagt, sie würde das nicht so beschreiben, es steckt Kraft und Liebe darin. Dr. Sandfuchs betont den eigenen Sprachrhythmus, der unterschiedliche Lesarten hervorholt. Die zweite Stimme aus dem Publikum: Sie sei verstört, dass ein elfjähriges Mädchen so denken soll, solche Reflexionen von sich gibt, es sei nicht die Sprache eines Kindes, woraufhin die Autorin in drei Worten feststellt: Freiheit des Schriftstellers. Die dritte Reaktion aus dem Publikum verkündet: Poetisch, sehr, sehr schön. Die Autorin lächelt zaghaft, zum ersten Mal heute Abend.

v.l.n.r. Jule Nero, Linda Boström Knausgård, Axel Daude - Foto © Verena Lüthje
Nach dem Signieren des Buches frage ich sie, ob ihr das Schreiben an diesem Roman „Willkommen in Amerika“ ob dieser bedrückenden Stimmung darin schwergefallen sei, ob sie dabei oft traurig war? Nein, ganz und gar nicht, lacht sie auf einmal und strahlt mich an, es war ein fröhliches Schreiben… Es floss nur so heraus.
Mein Taxi kommt. Ich steige ein. Sage mein Ziel. Im Radio die letzten Töne eines Liedes und dann das Nächste: Sound of silence. Der Taxifahrer schweigt. Ich auch. Bis zum Ziel. Ich steige aus. Das Taxi verschwindet in die Nacht. An der Luft beginne ich wieder zu atmen.
Was für ein Kammerspiel!
© Verena Lüthje
*Axel Daude M. A., Dozent am ISFAS Institut für Skandinavistik, Frisistik und Allgemeine Sprachwissenschaft der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Mitveranstalter dieser Lesung im Literaturhaus Schleswig-Holstein in Kiel.

Autorenfoto
Linda Boström Knausgård
Linda Boström Knausgård, geboren 1972 als Tochter einer Schauspielerin, ist Autorin von Gedichten, Erzählungen und Romanen und lebt in Schweden. Mit dem norwegischen Autor Karl Ove Knausgård hat sie vier Kinder. Für ihr Werk, das in mehrere Sprachen übersetzt ist, erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. WILLKOMMEN IN AMERIKA wurde von der schwedischen Kritik begeistert aufgenommen und war u. a. für den renommierten Augustpriset nominiert.